Jede Organisation lebt von Regeln. Aber kaum jemand liebt sie. Regeln riechen nach Kontrolle, Formularen und Bürokratie. Grenzen dagegen, die klingen nach Selbstschutz, nach Freiheit, nach „Ich weiß, wo mein Platz ist“.
Und trotzdem: In einem wirklich neuroinklusiven Umfeld brauchen wir beides. Denn wo Regeln fehlen, übernehmen ungeschriebene Regeln das Kommando und genau die sind es, die neurodivergente Menschen besonders oft stolpern lassen.
In diesem Artikel geht es nicht um die Frage, ob Regeln gut oder schlecht sind, sondern darum, wie klare Regeln und gesunde Grenzen zusammenarbeiten, um Vielfalt möglich zu machen.
Warum wir klare Regeln brauchen – besonders in diversen Teams
Unspoken Rules: Welche Regeln existieren implizit und wie wirken sie auf neurodivergente Mitarbeitende?
Psychologische Sicherheit beginnt da, wo Erwartungen aufhören, still zu sein.
Klare Regeln sind nichts anderes als sichtbar gemachte Erwartungen.
Sie schaffen Orientierung, verhindern Missverständnisse und sie entlasten. Gerade in diversen Teams.
Denn ohne klare Regeln entstehen automatisch ungeschriebene Regeln.
Und die sind tückisch. Sie leben im Subtext von Meetings („Wer zuerst spricht, gilt als engagiert“), in Chat-Kanälen („Wer keine Emojis nutzt, ist distanziert“) oder in den kleinen Pausenentscheidungen („Wer keinen Smalltalk hält, ist unsozial“).
Für neurodivergente Mitarbeitende, die Kommunikation oft anders wahrnehmen oder priorisieren, können solche ungeschriebenen Regeln zur Falle werden.
Sie sind nicht in Onboarding-Prozessen dokumentiert, aber entscheidend für Zugehörigkeit. Sie regeln, wer dazugehört, ohne je ausgesprochen zu werden.
Neuroinklusive Führung erkennt genau das: Sicherheit entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Transparenz. Klare Regeln schränken nicht die Freiheit ein, sondern ermöglichen sie erst.
Wenn ein Team weiß, wann Kommunikation erwünscht ist, wann Rückzug erlaubt, und wann Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, dann entsteht ein Raum, in dem Unterschiede sichtbar, aber nicht bedrohlich sind.
Keine Regeln gibt es nicht.
Denn jede Gruppe, egal wie locker sie sich versteht, erzeugt Erwartungen und eine eigene Gruppendynamik.
Kommunikation und Rückzug sind (hoffentlich) nie verboten, aber manchmal fallen sie in die soziale Norm und manchmal eben nicht. Diese soziale Norm oder eben unausgesprochene Erwartungshaltung sichtbar zu machen, beugt Konflikten vor… aber sie schafft vor allem auch Vertrauen bei der Gruppe, bei der Vertrauen oft am schwersten aufzubauen ist.

Warum wir gesunde Grenzen brauchen – besonders als Individuen
Wenn Regeln das Wir strukturieren, dann formen Grenzen das Ich.
Gesunde Grenzen sind nicht „Nein-Sagen“ um des Neins willen, sondern ein bewusstes Gestalten der eigenen Kapazität. Sie schützen vor Überforderung, Missverständnissen und im besten Fall auch vor Burnout.
Wie lernen neurodivergente Mitarbeitende ihre persönlichen Grenzen zu erkennen, zu formulieren und in einem Regelrahmen zu kommunizieren?
Besonders neurodivergente Fachkräfte kennen das Dilemma: Wir wollen dazugehören, also bleiben wir länger, antworten schneller, stimmen zu, obwohl unser Nervensystem längst „genug“ ruft. Gesunde Grenzen helfen, das frühzeitig zu erkennen.
Das kann ganz praktisch sein:
- „Ich brauche eine Stunde ungestörte Fokuszeit nach jedem Meeting.“
- „Ich lese Nachrichten lieber asynchron, bitte kein spontanes Ping.“
- „Ich verarbeite Kritik besser schriftlich als im direkten Gespräch.“
Solche Sätze sind keine Schwäche. Sie sind Selbstkenntnis in Aktion. Und in einer Organisation, die neuroinklusive Führung ernst nimmt, werden sie nicht als Störung, sondern als Information verstanden.
Denn wo Menschen ihre Grenzen kennen, können Teams sie respektieren.
Führung kann Strukturen schaffen, die beides unterstützen.
Wenn Regeln und Grenzen sich treffen – das Spannungsfeld
Welche Risiken bestehen, wenn Regeln zu starr sind oder Grenzen nicht anerkannt werden? (z. B. Überforderung, Masking, Erschöpfung)
Manchmal kollidieren Regeln und Grenzen.
Zum Beispiel, wenn die Regel lautet: „Kameras im Team-Meeting sind Pflicht“, aber eine Person empfindet den visuellen Reiz als Überforderung.
Oder wenn jemand seine Grenze kommuniziert: „Ich brauche Pausen ohne Smalltalk“, und das als „Teamunfähigkeit“ gelesen wird.
Hier zeigt sich, wie schmal der Grat zwischen Regel und Grenze ist. Neuroinklusive Führung ist genau dieser Balanceakt.
Denn zu viele Regeln ersticken Individualität. Zu viele Grenzen ohne gemeinsamen Rahmen führen zu Chaos.
Wie gelingt das Zusammenspiel? Wenige Regeln klar formulieren.
Die Kunst liegt darin, Regeln als Halteräume zu verstehen, nicht als Fesseln. Und Grenzen als Informationen über Bedürfnisse, nicht als Widerstand.
Ich mag dafür ein einfaches Bild: Regeln halten Räume, Grenzen halten Menschen.
Beides gehört zusammen. Und wo beides in Balance ist, entsteht ein Klima, in dem Unterschiedlichkeit selbstverständlich wird.
Generell habe ich die Erfahrung gemacht, dass es umso weniger Regeln braucht, desto expliziter sie ausgesprochen sind. Und sind die wesentlichen, unterschiedlichen Bedürfnisse im Team gut gegenseitig verstanden, sind es oft eher ein oder zwei zentrale Punkte.
Viele Regeln und Grenzen spiegeln nicht den Wunsch wieder, alles reglementieren zu wollen, sondern ein Mangel an Vertrauen. Wie viele Regeln es im Einzelnen braucht, hängt vom Bereich ab (zum Beispiel Qualitätssicherung), um die Anzahl zu optimieren stelle dir folgende drei Fragen:
- Wissen alle worum es geht?
- Teilen alle im Team das Kerninteresse?
- Gibt es ein gemeinsames Verständnis, wie dieses Interesse erreicht wird?
Wie Führungskräfte Regeln gestalten, die Vielfalt ermöglichen
Klare Regelung von Rahmen + Ermöglichung individueller Grenzen = inklusives Umfeld
Die meisten Führungskräfte glauben, sie müssten vor allem flexibel sein, um neurodiverse Teams gut zu führen. Ich sehe das anders. Flexibilität hilft, aber ohne klare Regeln verpufft sie.
Neuroinklusive Führung bedeutet, Strukturen zu schaffen, die Sicherheit geben, ohne starre Kontrolle auszuüben. Das kann ganz pragmatisch aussehen:
- Kommunikationsregeln sichtbar machen.
Wie schnell erwarten wir Reaktionen auf E-Mails oder Chat-Nachrichten?
Gibt es stille Zeiten, in denen niemand gestört wird?
Wer darf asynchron arbeiten?
Wie dokumentieren wir Ergebnisse? - Feedback-Regeln etablieren.
Wird Feedback spontan gegeben oder im Termin?
Gibt es die Möglichkeit, Rückmeldung schriftlich zu verarbeiten?
Wird Kritik immer mit einem Lösungsraum verbunden? - Rückzugszonen legitimieren.
Räume für sensorische Erholung, Kopfhörerzeiten oder asynchrone Arbeit sind keine Gnade, sie sind Teil gesunder Leistungsstrukturen.
Klare Regeln schaffen hier den Unterschied: Sie signalisieren, dass Unterschiede einkalkuliert sind, nicht toleriert, sondern bewusst gestaltet.
Wie Mitarbeitende gesunde Grenzen setzen und kommunizieren können
Stichwort: Selbstführung. Auch Mitarbeitende tragen Verantwortung dafür, ihre Grenzen zu kennen und zu kommunizieren.
Doch das fällt gerade neurodivergenten Menschen oft schwer. Nicht, weil sie es nicht können, sondern weil sie gelernt haben, dass es „zu viel“ ist, sie selbst zu sein.
Hier hilft es, Grenzen nicht als Mauern, sondern als Schnittstellen zu verstehen. Sie sagen nicht „Du darfst nicht rein“, sondern „Hier brauchst du ein anderes Tempo“.
Ein Beispiel:
„Ich möchte in der Mittagspause allein sein“
klingt für manche wie Rückzug, ist aber in Wahrheit ein Weg, am Nachmittag wieder voll präsent zu sein.
Gesunde Grenzen kommuniziert man am besten konkret, freundlich und ohne Entschuldigung:
- „Ich brauche fünf Minuten, bevor ich antworte.“
- „Ich kann heute keine neuen Aufgaben übernehmen.“
- „Ich bin nicht genervt, nur reizüberflutet.“
In Teams mit klaren Regeln wird so etwas nicht als Problem gesehen, sondern als gemeinsame Praxis. Praxis ist hier das Zauberwort, nicht Perfektion. In schrittweisen Experimenten kann sich ein Team dieses Verhalten unter Anleitung erarbeiten. Und das führt sofort zu spürbaren Effekten, da Zuverlässigkeit plötzlich für alle Neurotypen erlebbar wird.
Denn neuroinklusive Führung heißt nicht, jede Grenze aufzulösen, sondern sie zu integrieren.
Regeln schaffen Rahmen, Grenzen schaffen Vertrauen – das Fazit
Regeln ohne Grenzen sind Kontrolle.
Grenzen ohne Regeln sind Orientierungslosigkeit.
Das eine gibt Halt, das andere macht lebendig. Und nur gemeinsam schaffen sie ein Umfeld, in dem Menschen wirklich sie selbst sein können, ob neurotypisch oder neurodivergent.
Eine neuroinklusive Führung erkennt:
- Klare Regeln verhindern Unsicherheit.
- Gesunde Grenzen verhindern Erschöpfung.
- Und beides zusammen ermöglichen Innovation, Vertrauen und echte Zugehörigkeit.
Vielleicht lohnt sich diese kleine Reflexion zum Schluss:
Welche deiner Team-Regeln schafft gerade wirklich Raum und welche schränkt ein? Und wo liegt deine eigene Grenze zwischen Kontrolle und Vertrauen?
Denn dort, wo Regeln Halt geben und Grenzen respektiert werden, beginnt das, was wir alle suchen: Ein Arbeitsumfeld, in dem Menschen nicht nur funktionieren, sondern aufblühen.
Wie lässt sich das Thema organisatorisch verankern?
Weiterbildung, Führungskräfteentwicklung, Regelpflege, Feedback-Mechanismen – das können wichtige Bausteine sein. Aber Neuroinklusion ist keine Philosophie. Sie ist Design, ein bewusstes Gestalten von Regeln, Räumen und Beziehungen. Denn am Ende geht es nicht um Checklisten, sondern um Bewusstsein.
Genau dieses Bewusstsein wiegt schwerer als pure Anzahl an Weiterbildungsmaßnahmen dazu. Genau dieses Design kann nachhaltig mehr bewegen als ein minutiöser Feedbackprozess. Und vielleicht liegt genau hier der Unterschied zwischen einem Unternehmen, das Diversität „managt“, und einem, das sie lebt.
Lust, die unausgesprochenen Regeln sichtbar zu machen?
Wenn du gemeinsam herausfinden möchtest, welche ungeschriebenen Regeln in deinem Unternehmen wirken – und wie du sie so gestalten kannst, dass sie Sicherheit statt Anpassungsdruck schaffen – dann lass uns sprechen.
In einem unverbindlichen Gespräch schauen wir, welche Strukturen in deinem Team bereits tragen und wo klare Regeln oder gesunde Grenzen den Unterschied machen könnten.
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