Lange Zeit dachte ich, einfach introvertiert zu sein und das ändern zu müssen. Und zu können. Rückblickend ist das ein bisschen wie zu sagen: „Ich hab halt immer so gerne zugehört.“ Nicht nur wollte ich mitmachen, gucken war mir viel wichtiger als hören.

Das Missverständnis.

Worüber reden wir eigentlich? Kurze Definitionen:

  • Introvertiert: man zieht Energie aus Ruhe und Zeit allein
    Extravertiert: man zieht Energie aus Interaktionen mit anderen
  • Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken. Quelle

Klingt ähnlich? Auf der Tonspur wird es oft sogar gleichgesetzt! Hier geht es nicht mal um sprachliche Genauigkeit, sondern um Selbstverständnis und richtig verstanden zu werden.

Und weil ich – wie viele Autist:innen – vieles (eigentlich alles, aber das weiß man irgendwann und versucht gegenzusteuern, mit durchwachsenen Ergebnissen) wörtlich nehme, habe ich diesen Trugschluss lange geglaubt: “Ich bin introvertiert.”

Stellt sich heraus, ist quatsch!

Natürlich sind nicht alle Autist:innen introvertiert. Wäre irgendwie ein zu großer Zufall, oder? Denn ob man Energie aus Nähe oder Ruhe zieht, wird nicht von der neurologischen Entwicklung bestimmt. Karl Jung sah Extraversion und Introversion ursprünglich als angeborene Eigenschaften.

Inzwischen denken viele Psycholog:innen in Spektren. Auch Extraversion ist kein Entweder-oder. Wer hat immer Lust auf Menschen? Oder nie? Die meisten landen irgendwo dazwischen. Ich auch. Genauer: ambivert. Verschiedene Tests landeten bei 54 % Extraversion – ziemlich genau in der Mitte.

Trotzdem habe ich gut 30 Jahre gebraucht, um gefühlt erwachsen zu werden. Dann erst habe ich mir erlaubt aufzublühen. Und dann – dann wurde ich plötzlich laut. Und lebendig.

Der Hintergrund.

Hätte ich früher drauf kommen können? Nein. So funktioniert das nicht. Und ich habe mir die Frage oft genug gestellt: „Warum habe ich mich zurückgehalten? Warum Jahre verschwendet?“

Ich brauchte Sicherheit. Und Abstand. Erst als ich mich von fremden Erwartungen löste – räumlich, emotional, wirtschaftlich – konnte ich mich selbst klar erkennen.

Das hat gedauert. Betrachtet man „Eskapaden“ wie eine gescheiterte Ehe oder ein Studienfach, das mir fremd blieb, sogar ziemlich lang. Oder vielleicht doch nicht? Eigene Wohnung, sicherer Job, und dann: Corona. Zeit. Reflexion.

Ich bin auf Spurensuche gegangen. Habe in mich hineingehorcht. Habe Freund:innen um ehrliches Feedback gebeten. Habe eine Therapeutin gefunden. Und ich habe versucht, meine Hochintelligenz nicht dazwischenfunken zu lassen – was, sagen wir, begrenzt erfolgreich war. Irgendwann hieß es “Aber Sie sind doch nicht autistisch!” Darum ging es mir ja auch nie, sondern um konkrete Themen, um mich als Mensch, um echte Methoden und Lösungsangebote.

Damals waren es nur zwei oder drei enge Freundinnen, die regelmäßig bemerkten, wie neurodivergent ich eigentlich bin. Für alle anderen war ich einfach „gut im Job“ oder „ein bisschen speziell“.

Maskieren war selbstverständlich. Es war mein Überlebensmodus. Und ich dachte, ich muss das. Auch, um nicht als „verschroben“ oder „verkopft“ oder “introvertiert” abgestempelt zu werden.

Je mehr ich zu mir fand, desto stärker wurde mein Wunsch, gesehen zu werden. Mich zu zeigen. Und dabei von Menschen umgeben zu sein, die wirklich hinschauen.

Das erschien mir lange unvereinbar.

Zum Glück. Denn genau dieser innere Widerspruch hat mich dazu gebracht, richtig hinzusehen. Ich hatte die Wahl: weiter funktionieren oder endlich sichtbar werden.

Die Folgen.

Und wisst ihr, was passiert ist? Seit ich mich traue, mich zu zeigen, erkenne ich meine Bedürfnisse schneller. Ich setze Grenzen klarer. Ich renne niemandem mehr hinterher. Tatsächlich verbringe ich mehr Zeit mit mehreren, aber ausgewählten Menschen.

Und dieser Blog? Der ist auch Sichtbarkeit. Wer bis hierher gelesen hat: Danke! Das bedeutet mir viel.

Aber sag mal – was hat dich hiergehalten?

Starrst du auf deinen Bildschirm, vielleicht in endloser Verwunderung, und denkst: “Was ist daran so besonders?”
Dann darf ich dir etwas verraten: mir hat das früher auch niemand erklärt. In meiner Kindheit und jungem Erwachsenenleben musste ich Zusammenhänge, die andere einfach spüren, aktiv erklärt bekommen. Denn meine Entwicklung? Die lief in anderer Reihenfolge ab.
Definitionen und Begriffe habe ich genutzt, um mich besser einzufügen. Und weil das lange meine Strategie war, waren Regeln für mich hilfreich, fast heilig.

Oder starrst du auf deinen Bildschirm und siehst kaum noch richtig durch deine Tränen, weil du denkst: “Da ist noch wer wie ich.”
Für dich habe ich den Artikel geschrieben. Damit du weißt: du bist nicht allein, du hast Platz auf dieser Welt, du wirst ankommen.

Und falls du es noch nie gehört hast: Du musst nicht „leiser“ sein, um dazuzugehören.

Jeder Mensch ist unterschiedlich. Jeder einzelne. Alle. Und keiner von uns muss allein bleiben.

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