
Der ewige Zweifel: Worin bin ich überhaupt gut?
Was sind meine Stärken? Manche Menschen können ihre Stärken aufzählen wie ein Rezept. Für viele neurodivergente Menschen ist das wie Nebel: Man spürt, da ist etwas, aber es lässt sich kaum greifen.
Masking, Anpassung und das „Ich weiß gar nicht, wer ich bin“-Syndrom
Stell dir vor: du willst mehr über dich herausfinden und suchst den Blick von außen? Vielleicht unterhält sich jemand mit dir, vielleicht beantwortest du einen Fragebogen. Kennst du das Gefühl, dass du niemals genau dieselben Antworten erneut geben könntest?
Nicht, weil du nicht willst, sondern weil du dir schlichtweg nicht sicher bist, was du gerade geantwortet hast. Du magst Dokumentation und Meetingprotokolle, denn oft kommt es dir vor, als ob dir die Sache sonst wie Sand durch die Finger rennen könnte. Das ist (unterbewusstes) Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung und ist besonders unangenehm, wenn sie sich auf deine Selbstkenntnis bezieht.
Dafür gibt es eine besondere Erklärung bei neurodivergenten Menschen: Masking. Maskieren ist eine Strategie, um Verhaltensweisen, Merkmale oder Emotionen zu verstecken. Kurz gesagt: alles was im Normbild der Gesellschaft schnell als “zu viel” angesehen wird und oft schon im frühen Kindesalter mit negativen Erfahrungen besetzt wird. Für einige von uns wird Maskieren nicht nur zur Gewohnheit, sondern zur Selbstverständlichkeit – ein Problem, denn irgendwann erkennt man sich selbst nicht mehr wieder.
Auch eng damit verknüpft: das Impostor-Syndrom. Vielleicht erledige ich eine Aufgabe gut und zuverlässig. Wenn ich das aber immer nur tue, während ich maskiere, “bin das gar nicht ich”. Auch wenn Masking oft unterbewusst abläuft, dasselbe Unterbewusstsein steckt auch hinter “folgerichtiger” Logik.
Natürlich sind beide Stichworte (Masking und Impostor-Syndrom) nicht einzig Neurodivergenten vorbehalten. Wer sich aus einem anderen Kontext angesprochen fühlt, darf sich gerne angesprochen fühlen.

Warum neurotypische Fragen („Was kannst du gut?“) an uns vorbeigehen
Wenn man sich nicht auf die eigene Einschätzung verlassen kann, gibt es ja noch Tests, Modelle, Fragebögen etc. Der Blick von Außen wird einem doch sicher eine klare Orientierung geben. Nicht immer. Kurz: Unterschiedliche Neurotypen verarbeiten Fragen nicht gleich, weil sie eben verschieden denken.
“Was kannst du gut?” ist da ein super Beispiel. Ich denke dabei erstmal darüber nach, was ich Hilfreiches für andere tun kann. Also, was gut für andere und von mir leistbar (“könnbar”) ist. Aus Gesprächen weiß ich: andere Neurotypen antworten ganz anders, als würden sie stattdessen “Was mache ich gerne? Was macht mir Spaß? Was möchte ich einbringen?” hören. Auch wenn ich das eigentlich weiß, denkt mein Kopf trotzdem so wie er es kann und ich komme erst darauf, Fragen breiter auszulegen, wenn ich aktiv darüber reflektiere.
Das Phänomen ist keine Seltenheit. Wahrscheinlich gibt es gar keine Frage, die alle Menschen gleich auffassen. Das ist gerade bei Umfragen oder Interviews ein Problem, sobald deren Auswertung eine hohe Vergleichbarkeit der Antworten annimmt. Das erklärt, warum viele neurodivergente Menschen auf typische Stärkenfragen mit einem leeren Kopf reagieren. Nicht, weil sie keine Stärken haben, sondern weil die Frage an ihrem Denkmuster vorbeigeht.
Was Stärken wirklich sind – jenseits von Leistung und Rollenbildern
Unterschied zwischen Fähigkeiten, Kompetenzen und Stärken als Eigenschaften
Fangen wir im Allgemeinen an und werden spezifischer: Der deutsche Duden definiert den Begriff Eigenschaft folgendermaßen:
“zum Wesen einer Person oder Sache gehörendes Merkmal; charakteristische [Teil]beschaffenheit oder [persönliche, charakterliche] Eigentümlichkeit” (Quelle) Eigenschaften sind demnach Merkmale, die uns eigen sind.
Von Fähigkeiten wird oft im Sinne konkreter, erlernter, anwendbarer Fertigkeiten gesprochen. Kompetenzen können aus einer generellen Fachexpertise, die über eine einzelne Fähigkeit hinausgeht, stammen oder von einer anderen Stelle verliehen werden, im Arbeitskontext z.B. eine Entscheidungskompetenz.
Stärken sind persönliche Eigenschaften, die im richtigen Umfeld zum Vorteil gereichen. Um Stärken zu entfalten, positioniere dich mit deinen Fähigkeiten und Kompetenzen – suche oder schaffe dir das richtige Umfeld.
Warum Stärken kein To-do, sondern ein „So bin ich“ sind
Die moderne Welt konditioniert uns, Stärken als etwas zu begreifen, das man leistet, als Liste messbarer Fähigkeiten, die man trainieren, verbessern oder nachweisen kann. Doch echte Stärken entstehen nicht durch Verkrampfung, sondern durch Natürlichkeit. Sie zeigen sich oft genau dann, wenn du sie genau nicht suchst, sondern einfach bist, handelst oder spielst.
Eine Stärke ist keine Aufgabe auf deiner To-do-Liste, sondern ein Ausdruck deiner inneren Logik, deiner Art, die Welt zu verstehen, zu reagieren und dich in ihr zu bewegen. Gerade neurodivergente Menschen verwechseln schnell Anpassungsleistung mit Kompetenz, weil sie jahrelang gelernt haben, Lücken zu füllen, die andere gar nicht wahrgenommen haben. Doch das ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Überanpassung.
Wie das richtige Umfeld Stärken zum Vorschein bringt
Was als Stärke wahrgenommen wird, hängt nicht ausschließlich von unseren Eigenschaften ab, sondern auch vom Umfeld. Dafür zwei Beispiele.
1) Analytisches Denken ist als “gute” Eigenschaft anerkannt und in Lebensläufen gern gesehen. Aber warst du schon mal in einem agilen Team oder hektischen Meeting und dir wurde eine “Verkomplizierung” vorgeworfen oder deine Einwände mit “wir müssen das jetzt nicht gleich wissenschaftlich angehen” abgetan?
2) Sturheit ist als “negative” Eigenschaft bekannt und würde wohl niemand in den eigenen Lebenslauf schreiben. Aber kannst du dir ein erfolgreiches Qualitätsmanagement vorstellen, ohne dass jemand die Prinzipientreue durchhält?
Es gibt beides: Eigenschaft X gilt typischer Weise als Stärke, kann in Umgebung A jedoch eine Schwäche sein; Eigenschaft Y gilt oft als Schwäche, wirkt aber in Umgebung B als Stärke.
Das soll Mut machen. Unsere Eigenschaften suchen wir uns nicht aus, aber unsere Umgebung können wir wählen.
3 Schritte, um deine eigenen Stärken zu erkennen
Wie finde ich meine Stärken – insbesondere als neurodivergente Person? Jeder Mensch hat Eigenschaften, entdecke deine
Schritt 1: Wie ticke ich?
Beobachte dich, wenn du ganz du selbst bist. Welche Eigenschaften zeigen sich da? Es geht nicht um einzelne Tätigkeiten oder Erfolge oder Misserfolge, sondern Verhaltensmuster. Was zeichnet dich aus?
Oft wird auch “Was machst du besonders gerne?” gefragt. Wenn du darauf eine Antwort hast, cool! Wenn es dir wie mir geht (und du keine klare Antwort findest), gebe ich dir folgende Tipps:
- führe mal für eine Zeit Logbuch darüber, was du den ganzen Tag machst. Nach einigen Wochen kannst du es dir anschauen. Fällt dir etwas auf? Hast du etwas völlig Selbstverständliches weggelassen? Wann hast du dich besonders leicht, verbunden, im Flow gefühlt?
- frage Freunde oder Teammitglieder “Was zeichnet mich deiner Meinung nach aus?”
- denke zurück: zu welchen Themen hast oft Feedback bekommen? Denke an beides, Schmeichelhaftes und Unschmeichelhaftes.
Schritt 2: Wo ist das hilfreich?
Nimm dir die Eigenschaften aus Schritt 1 einzeln vor und brainstorme: Unter welchen Bedingungen ist das gut, vorteilhaft, löst Probleme? Hierbei geht es darum, den Mechanismus hinter den Eigenschaften und deren Anwendung zu erkennen.
Sensibilität ermöglicht zum Beispiel das tiefere Erfassen von Zwischentönen. Das wird hilfreich, sobald es um eine hohe Beobachtungsgabe oder emotionale Tiefe geht. Das kann sich in einem Designprozess oder im Coaching auszahlen.
Sobald der Anfang gemacht ist, kommen schnell weitere Facetten. Ich nutze an der Stelle gerne Mindmaps, um alle Ideen festzuhalten. Denn hier gibt es nicht die eine richtige Antwort. Vielmehr hilft einem dieser Schritt dabei, ganz individuell festzustellen, wie und wo die eigenen Eigenschaften richtig zum Leuchten kommen könnten. Wir machen ganz weit auf und erweitern unseren Möglichkeitenhorizont.
Schritt 3: Wie setze ich meine Stärken ein?
Jetzt wird das Könnte zum Sein. Das Brainstorming aus Schritt 2 wird hier auf die eigene Situation angewendet. Denn so wichtig es ist, zu träumen, so wichtig ist es ebenso auch die Realität einzubeziehen. (Hast du das eben schon gemacht? Dann gehe zurück zu Schritt 2 und brainstorme noch mal ganz bunt. Versprochen, das hilft!)
Was sind typische Situationen (auf der Arbeit, im Verein, im Privaten etc.)? Welche davon werden als Herausforderung wahrgenommen (zum Beispiel ein Serverausfall oder sich in ein neues Thema einzuarbeiten)? Welche der Facetten aus Schritt 2 sind in den typischen oder herausfordernden Situationen hilfreich?
Beobachte auch wie du plötzlich anders darüber nachdenkst. Es geht gar nicht mehr darum, was gut oder schlecht ist, wer etwas besser oder schlechter kann. Stattdessen überlegst du, was du beitragen kannst, wie du anderen helfen kannst, wie Situationen gelöst werden können.
Und jetzt stell dir vor, du bringst diese Klarheit in dein Team. Ihr redet gemeinsam über Stärken. Dann spricht dich vielleicht irgendwann jemand an und fragt “Hey, du kannst doch dasunddas. Würdest du mir bei demundem helfen?” Es wird dann auch einfacher über Hindernisse und Probleme zu sprechen, wenn es diesen Stärken-Gedanken gibt. Dann erzählt vielleicht jemand im Teammeeting von einer Herausforderung und wer anders meldet sich und sagt “Moment, da kenne ich vielleicht eine Lösung”, setzt die eigenen Stärken ein und hilft jemandem, der da schon gar nicht mehr mit gerechnet hatte.
Fazit: Deine Stärken sind kein Ergebnis, sondern ein Ausdruck deiner Natur
Es geht um Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz und Sichtbarkeit. Stärkenarbeit ist in meinem Coaching ein Werkzeug für mehr Selbstvertrauen und berufliche Passung.
Der echte Hebel entsteht jedoch in Teams. Leistung ist wichtig, aber wenn wir immer nur an Leistung denken, geht die Performance tatsächlich runter. Wenn sich jedes Teammitglied auf die eigenen Stärken fokussieren kann, liegen Lösungen plötzlich viel näher. Stärkenarbeit ist daher ein Tool und eine Rückkehr zu dir selbst. Wenn du dort ankommst, fließt alles andere leichter.
Dir reicht die Anleitung hier noch nicht? Kein Problem! Suche dir einen Termin bei mir zum unverbindlichen Kennenlernen aus. Dabei stellen wir gemeinsam fest, was du brauchst und ob ich dir helfen kann.
Kleine Fragen gerne auch einfach per Kommentar.